Vorlage:Geschichte 9

Aus NLPedia
Wechseln zu: Navigation, Suche

Die 4 Feinde des Wissens:

Sonntag, 15. April 1962

"Kurz bevor ich wegfahren wollte, entschloß ich mich, ihn noch einmal nach den Feinden eines Wissenden zu fragen. Ich erklärte ihm, das ich für einige Zeit nicht wiederkommen konnte, und das es gut sein würde, das aufzuschreiben, was er zu sagen hatte, denn ich könnte darüber nachdenken, während ich fort war. Er zögerte eine Weile, aber dann begann er zu sprechen.

»Wenn ein Mann anfängt zu lernen, ist er sich über seine Ziele nicht klar. Sein Vorsatz ist schlecht; seine Absicht ist vage. Er hofft auf Belohnungen, die niemals eintreffen werden, denn er weiß nichts von den Härten des Lernens.

Er beginnt langsam zu lernen - zuerst Schritt für Schritt, dann in großen Sprüngen. Und bald sind seine Gedanken durcheinander. Was er lernt, ist nicht, was er sich ausgemalt hat, und so beginnt er sich zu ängstigen. Lernen ist niemals, was man erwartet. Jeder Schritt des Lernens ist eine neue Aufgabe, und das Erleben der Furcht nimmt erbarmungslos und unnachgiebig zu. Sein Vorsatz wird ein Schlachtfeld.

Und so ist er über den ersten seiner natürlichen Feinde gestolpert: die Furcht! Ein schrecklicher Feind - tückisch und schwierig zu überwinden. Er bleibt an jeder Wegbiegung verborgen, lauernd, wartend. Und wenn der Mann, erschreckt durch ihre Anwesenheit, fortläuft, wird sein Feind seine Suche beendet haben. «

»Was geschieht mit dem Mann, wenn er aus Furcht fortläuft? «

»Nichts geschieht ihm, nur wird er niemals lernen. Er wird niemals ein Wissender werden. Er wird vielleicht ein Angeber oder ein harmloser, ängstlicher Mann; auf jeden Fall wird er ein geschlagener Mann sein. Sein erster Feind wird seinem Verlangen ein Ende gesetzt haben. «

»Und wie kann er die Furcht überwinden? «

»Die Antwort ist sehr einfach. Er darf nicht fortlaufen. Er muß seine Furcht besiegen, er muß ihr trotzen und den nächsten Schritt des Lernens gehen und den nächsten und den nächsten. Er muß nur aus Furcht bestehen, und doch darf er nicht aufhören. Das ist die Regel! Und ein Moment wird kommen, wo sein erster Feind zurückweicht. Der Mann beginnt, sich seiner selbst sicher zu sein.

Sein Vorsatz wird stärker. Lernen ist nicht länger eine erschreckende Aufgabe. Wenn dieser glückliche Augenblick kommt, kann der Mann ohne Zögern sagen, daß er seinen ersten natürlichen Feind besiegt hat. «

»Geschieht es plötzlich, Don Juan oder allmählich?«

»Es geschieht allmählich, doch wird die Furcht plötzlich und schnell überwunden. «

»Aber wird ein Mann sich nicht wieder fürchten, wenn ihm etwas Neues geschieht? «

»Nein. Wenn ein Mann einmal die Furcht überwunden hat, ist er für den Rest seines Lebens frei von ihr, weil er statt der Furcht Klarheit gewonnen hat - eine Klarheit der Gedanken, die die Furcht auslöscht. Aber dann kennt ein Mann seine Wünsche: er weiß sie zu befriedigen. Er kann die neuen Schritte des Lernens voraussehen, und alles ist von deutlicher Klarheit umgeben. Der Mann fühlt, daß nichts verborgen ist. Und so hat er seinen zweiten Feind getroffen: die Klarheit! Diese Klarheit der Gedanken, die so schwierig zu erlangen ist, vertreibt die Furcht, aber sie macht auch blind.

Sie zwingt den Mann, sich niemals selbst anzuzweifeln. Sie gibt ihm die Sicherheit, alles zu tun, was ihm gefällt, denn er sieht klar in alle Dinge. Und er ist mutig, denn er ist sicher, und er schreckt vor nichts zurück, weil er sich eben sicher ist. Aber all das ist ein Fehler: es ist wie etwas Unvollständiges. Wenn der Mann dieser vorgetäuschten Macht nachgibt, ist er von seinem zweiten Feind besiegt worden, und er wird mit dem Lernen spielen. Er wird eilen, wenn er geduldig sein sollte, oder er wird geduldig sein, wenn er eilen sollte. Und er wird mit dem Lernen spielen, bis er endet, unfähig, noch irgendetwas zu lernen. «

»Was wird aus dem Mann, der so besiegt wird, Don Juan stirbt er deswegen! «

»Nein, er stirbt nicht. Sein zweiter Feind hat ihn nur kaltgestellt bei seinem Versuch, ein Wissender zu werden; statt dessen konnte aus ihm ein gleichgültiger Kampfer, oder Clown werden. Aber die Klarheit, für die er so teuer bezahlt hat, wird sich nie wieder in Dunkel und Angst verwandeln. Er wird klar sehen, so lange er lebt, aber er wird nichts mehr lernen oder nach irgend etwas suchen.«

»Was muß er tun, um nicht besiegt zu werden!«

»Er muß tun, was er mit der Furcht getan hat: er muß seiner Klarheit trotzen und nur mit ihr sehen und geduldig warten und vorsichtig erwägen, bevor er neue Schritte tut; er muß vor allem denken, daß seine Klarheit fast ein Fehler ist. Und ein Augenblick wird kommen, da er verstehen wird, daß seine Klarheit nur ein Punkt vor seinen Augen war. Und so wird er seinen zweiten Feind besiegt haben, und er wird in eine Lage kommen, in der ihm nichts mehr schaden kann. Das wird sein Fehler sein. Es wird nicht nur ein Punkt vor seinen Augen sein. Es wird wahre Macht sein.

Zu diesem Zeitpunkt wird er wissen, daß die Macht, die er so lange gesucht hat, endlich die seine ist. Er kann mit ihr machen, was immer ihm einfällt. Er beherrscht seinen Verbündeten. Sein Wunsch ist das Gesetz. Er sieht alles, was um ihn ist. Aber er hat auch seinen dritten Feind getroffen: die Macht!

Macht ist der stärkste aller Feinde. Und natürlich ist es das Einfachste, nachzugeben; schließlich ist der Mann wirklich unbesiegbar. Er befiehlt; er beginnt berechnete Risiken einzugehen und macht schließlich Gesetze, denn er ist der Herrscher.

Ein Mann auf dieser Stufe bemerkt kaum, wie der dritte Feind ihn einkreist. Und plötzlich wird er, ohne es zu erkennen, gewiß seinen Kampf verloren haben. Sein Feind wird ihn zu einem grausamen, unberechenbaren Menschen gemacht haben. «

»Wird er seine Macht verlieren?«

»Nein, er wird nie seine Klarheit oder seine Macht verlieren. «

»Was wird ihn dann von einem Wissenden unterscheiden? «

»Ein Mann, der von der Macht besiegt ist, stirbt, ohne wirklich gewußt zu haben, wie mit ihr umzugehen ist. Macht ist nur eine Last über seinem Schicksal. Solch ein Mann hat keine Gewalt über sich selbst und kann nicht entscheiden, wann oder wie er seine Macht anwenden soll. «

»Ist die Niederlage durch einen dieser Feinde eine endgültige Niederlage? «

»Natürlich ist sie endgültig. Wenn einer dieser Feinde einen Mann einmal zu Fall bringt, gibt es nichts, was er tun kann. «

»Ist es zum Beispiel möglich, daß der Mann, der von der Macht besiegt wurde, seinen Fehler einsieht und auf seinem Weg umkehrt? «

»Nein. Wenn ein Mann einmal nachgibt, ist er erledigt. «

»Aber was geschieht, wenn er nur vorübergehend von der Macht geblendet wird und sie dann zurückweist? «

»Das bedeutet, daß sein Kampf noch weitergeht. Das bedeutet, daß er noch immer versucht, ein Wissender zu werden. Ein Mann ist nur dann besiegt, wenn er es nicht länger versucht und sich selbst aufgibt. «

»Aber ist es dann nicht möglich, Don Juan, daß ein Mann sich vielleicht jahrelang der Furcht ergibt, aber sie schließlich besiegt? «

»Gewiß nicht. Wenn er sich der Furcht ergibt, wird er sie niemals besiegen, weil er das Lernen scheuen und es nie wieder versuchen wird. Aber wenn er inmitten seiner Furcht jahrelang zu lernen versucht, wird er sie eventuell besiegen, weil er sich ihr niemals wirklich ergeben hat. «

»Wie kann er seinen dritten Feind besiegen, Don Juan?«

»Er muß ihn vorsätzlich herausfordern. Er muß einsehen, daß die Macht, die er scheinbar gewonnen hat, niemals wirklich sein ist. Er muß sich zu jeder Zeit selbst beherrschen und alles, was er gelernt hat, vorsichtig und ehrlich gebrauchen. Wenn er sieht, daß Klarheit und Macht ohne Selbstbeherrschung schlimmer als Fehler sind, wird er einen Punkt erreichen, wo sie ihm alles fügt.

Dann wird er wissen, wann und wie er seine Macht gebraucht. Und so wird er seinen dritten Feind besiegt haben. Der Mann wird am Ende seiner Reise des Lernens sein, und fast unversehens wird er dem letzten seiner Feinde begegnen: dem Alter! Dieser Feind ist der grausamste von allen, er ist der, den er nicht völlig schlagen, sondern nur bekämpfen kann.

Das ist die Zeit, da ein Mann keine Furcht mehr kennt, keine ungeduldige Klarheit der Gedanken - das ist eine Zeit, da er seine ganze Macht beherrscht, aber es ist auch die Zeit, da er ein unüberwindliches Verlangen nach Ruhe hat. Wenn er seinem Verlangen, auszuruhen und zu vergessen völlig nachgibt, wenn er sich selbst in Müdigkeit wiegt, wird er seine letzte Runde verloren haben, und sein Feind wird ihn zu einem schwachen, alten Geschöpf niederstrecken. Sein Verlangen, sich zurückzuziehen wird all seine Klarheit, seine Macht und sein Wissen unterdrücken.

Aber wenn der Mann seine Müdigkeit abschüttelt und sein Schicksal zu Ende lebt, kann er ein Wissender genannt werden, wenn auch nur für den kurzen Augenblick, da es ihm genügt, seinen letzten unbesiegbaren Feind abzuschütteln; Dieser Augenblick der Klarheit, der Macht und des Wissens ist genug.« " Carlos Castaneda; Die Lehren des Don Juan